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Engel sind nichts anderes

als die Idee Gottes

Meister Eckhard

 

 


Der Engel

 

Es ging mir nicht gut. Ich fühlte mich mies. Jahrelang hatte ich mich selbst belogen, hatte mir eingeredet, ich bräuchte IHN nicht, ich käme ohne IHN zurecht. Aber ER hatte mich in Wahrheit nie verlassen. Gott war immer in mir. Warum war ich ausgerechnet an diesem Ort gelandet? Ich ging einige Male in weitem Bogen um die Kapelle herum, ganz so, als wäre ich auf meinem Spaziergang eher zufällig hier angekommen, ohne festes Ziel. Ich belog mich, wie ich mich schon viele Jahre belogen hatte. Dabei kannte ich mein Ziel nur allzu gut. Ich sträubte mich, ich wollte es nicht zulassen. Aber immer näher kam ich dem Wallfahrtzentrum, hier in Kevelaer am Niederrhein. Wo sonst Omnibusse ihre menschliche Fracht ausluden und schwatzende, fotografierende Touristen umherliefen, war ich heute allein. Es war auch wirklich kein Wetter, um Beistand zu erflehen. Wieder lief ich mehrmals um den »Gnadenplatz« herum, immer noch voller Zweifel. Sie hatten hier ein Bild gefunden, das Wunder bewirken sollte. War das nicht blanker Unsinn? Verächtlich blickte ich auf diese Stätte der Marienverehrung herab. Und trotzdem zog mich etwas genau dort hin.

 

Ich wollte nicht. So schnell wollte ich meine Barriere nicht niederreißen lassen. Schließlich hatte ich zehn Jahre Kirche und Gott aus meinem Leben verbannt, gegen Gott gekämpft. War mein Kampf umsonst gewesen? Was waren diese Jahre wert?

»Wenn es Dich gibt, lass mich in Ruhe!«, sagte ich laut. »Ich will nicht mehr. Ich bin bedient. Ich hab genug hinter mir. Du hast mir genug Leid zugefügt. Ich bin ein Flüchtlingskind und habe keine wahren Eltern gehabt. Und trotzdem: Alles hatte ich für Dich weggeworfen, mich von allem getrennt. Mein Leben hatte ich Dir versprochen mit feierlichen Gelübden: ich wollte arm sein, ich wollte Dir gehorsam sein, ich wollte asketisch und keusch sein, ich wollte das Leiden Jesu Christi verinnerlichen und leben, bejahen und Dir allein folgen. Die Dornenkrone wurde mir bei der Profess aufs Haupt gesetzt, das Gelübde der Nachfolge im Leiden Jesu. Aber wo warst Du?«

Doch meine Anklage stärkte mich nicht. Dabei wollte ich Stärke zeigen, vor mir und vor IHM. Doch meine Widerstandskraft wurde schwächer, immer schwächer. Ich drückte mich noch eine Weile vor der Kapelle herum, lief hin und her, auf und ab, als wollte ich Zeit schinden wie vor einem unangenehmen Termin. Plötzlich stand ich nur noch wenige Schritte vor dem Gnadenort. Die Doppeltür stand offen.

 

Ein Hurrikan zog mich hinein.

 

Ich hatte das Gefühl, wie von einem mächtigen unwiderstehbaren Sog hineingezogen zu werden. Lautlosigkeit herrschte in der Kapelle. Ein paar Kerzen flackerten vor der Marien-Ikone. Meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Die Stille umfing und betäubte mich. Schwer, immer schwerer lastete der ganze Raum auf mir. Ich trug an mir selbst. Meine Kraft war dahin, ich gab nach. Ich ließ mich fallen und sank auf die Knie, ohne Sprache, ohne Gedanken. Ich sank einfach auf den Boden neben den Bänken.

...

 

Auszug aus Kapitel 1 "Der Weg zu IHM"

DER DORNENPRIESTER

ISBN: 973-0-03816-3