Chronik eines Infarktes
19.02.2006 - Sonntag
HL. Messe in der Basilika 11 Uhr. Ca 150 Messbesucher. Ich fühle mich nicht wohl, müde, ausgelaugt. Aber das hatte ich schon öfter.
14 Uhr Gottesdienst für Kinder. Immer mehr erwachsene Männer und Frauen kommen dazu. An diesem Tag ca. 530. Im zweiten Gottesdienst bewege ich mich zwischen den Kindern und Erwachsenen. Seit dem 2. Mai, dem Tag der Neu-Einweihung, ist ein Wunder geschehen. Die Gottesdienstbesucher, alles Zigeuner, folgen mit Disziplin und Stille dem Geschehen. Am 2. Mai war es noch wie bei einem Volksaufstand. Ich muss an diesen Tag denken und fühle mich wie inmitten einer Manege mit dressierten Raubtieren, obwohl sie alle andächtig folgen, mitbeten, mitsingen. Kein Anlass für Angst. Und doch: eine Vision. Nach dem Gottesdienst bin ich total erschöpft.
Ich lege mich ins Bett und schlafe.
Nachts etwa um drei Uhr reißt mich ein schrecklicher Krampf aus dem Schlaf. Ich bin erschrocken, nervös, zittere, transpiriere, bekomme keine Luft mehr. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich will nicht leiden. Es geht drei Stunden. Dann ist alles vorbei. Ich schließe die Augen und schlafe fest ein.
Am Morgen stellt die Ärztin einen Infarkt fest. Sofort ins Krankenhaus. Das neue schöne Privatkrankenhaus Polisana hat keine kardiologische Abteilung. Also ab ins Staatskrankenhaus. Aus Erfahrung weiß ich, was mich dort erwartet. Ein freundlicher Arzt überredet mich zu bleiben und macht mir die Gefährlichkeit bewusst, wenn ich gehe.
Ich habe meine eigene Bettwäsche und Oberbett mitgebracht. Gott sei Dank. Die Matratze stammt aus irgendeinem anderen Jahrhundert, zu groß für das Bett, verseucht, schmutzig. Ich werde an den Tropf angeschlossen und an ein Herzgerät. Ein Mann in einer schwarzen Lederjacke kommt und gibt den 3 Krankenschwestern irgendwelche Anweisungen. Ich frage ihn, wer er sei. Dann stellt er sich vor. Es ist ein anderer Arzt. Bei Kommunisten stellt man sich nicht vor.
Nach ein paar Stunden werde ich in ein anderes Krankenzimmer verbracht. Ich muss aufpassen, dass ich mein eigenes Bettzeug mitnehmen kann. Aufregung. Schlecht bei einem Infarkt. 6 Personen in einem Zimmer, die Betten viel zu eng aneinander. Gerüche. Schlechte Luft. Das Fenster muss zubleiben. Neues EKG. Bestätigung des Infarktes.
Jetzt sind die Wände neu gestrichen, aber es wird nicht geputzt, wie immer. Auf den Toiletten gibt es keine Hygiene, kein Toilettenpapier. Wie immer. Die Urinflaschen werden im Waschbecken entleert. Die WC-Deckel sind alle aus ihrer Befestigung herausgerissen.
Der Arzt, ein intelligenter Mann, tröstet mich. Er selbst lässt sich wenn notwendig in Deutschland operieren. Ich aber habe keine Krankenversicherung für Deutschland. Ich gehe zu ihm in sein Zimmer und wir diskutieren über Gott und die Welt. Nicht aber über den Zustand des Krankenhauses.
Mittwoch, den 22.02.2006
Nach der dritten unzumutbaren Nacht, beschließe ich zu gehen. Meine Mitarbeiter hatten mir etwas Essbares gekauft, was dort verabreicht wurde, würden in Deutschland nicht einmal Schweine vertilgen.
Der Arzt beschwört mich zu bleiben und die Verlegung mit einem Krankenwagen in die Herz-Spezialklinik nach Tirgu Mures abzuwarten. Er erklärt mir geduldig das Risiko, wenn ich jetzt gehe. Ich lege alles in Gottes Hand und unterschreibe, dass ich auf eigene Gefahr gehe. Er ruft den Kollegen in TG Mures an und legt ein gutes Wort ein und sagt ihm, wer da kommt, jemand, der seit 15 Jahren humanitäre selbstlose Arbeit in Rumänien leistet. Ich sage, ich habe auch für Rumänien keine Krankenversicherung. Sie wurde mir verweigert. Er bewegt Gott und die Welt, hängt sich mit seinem Handy zum Fenster heraus, gegen alle eventuellen Abhörversuche und schafft es gegen alle Erwartungen. Ich bekomme eine Krankenversicherung, wenn ich die letzten drei Jahre rückwirkend bezahle. Ich muss es von Spenden nehmen, weil ich seit 15 Jahren kein Gehalt habe.
Das Krankenhausentlassungspapier holt Minodora, die Buchhalterin, ein paar Tage später ab. Sie wird im Krankenhausrevier hin und her geschickt, ist einen halben Tag damit beschäftigt, sechs verschiedene Stempel einzuholen, damit das Papier gültig ist.
Wieder zu Hause. Ich fühle mich elend. Aber ich bin wieder zu Hause. Ein frisch bezogenes Bett, frischer Orangensaft, gute Worte meiner Mitarbeiter, Stille, Frieden. Ich habe die Idee, lieber so sterben als im Dreck und Stress des Krankenhauses leben.
Donnerstag bis Samstag
Ich bleibe im Bett, stehe aber auch zeitweilig auf. Keine Beschwerden mehr, nur immer wieder Müdigkeit. Die Ärztin kommt täglich und kontrolliert mich.
Sonntag, 26.02.2006
Über 200 Zigeuner "meiner" Gemeinde, versammeln sich in der Basilika zum Gebet. Man berichtet mir von ihrer Frömmigkeit und ihrer Stille und Ergriffenheit. Sie bringen Kerzen zum Altar und wollen, dass ich zurückkomme.
In der gleichen Zeit fahre ich ab. Niemand soll mich sehen, niemand soll mich anhalten.
Montag Morgen muss ich in der Herzklinik in Tirgu Mures sein. Mir graut vor der Krankenfabrik. Ich höre, dass sich nicht einmal die Ärzte und das Personal untereinander kennen, so groß ist der Betrieb.
Ich suche ein Hotel auf, noch einmal ein gemütlicher Abend, in Ruhe eine kleine gepflegte Mahlzeit zu sich nehmen und ein letztes Glas Wein. Ich schlafe ohne Probleme.
Montag Morgen, 27.02.2006
Ich bin pünktlich in der Klinik. Auf dem Korridor schieben sich etwa 100 bis 200 Personen hin und her. Man wird gestoßen und geschubst, ständig steht jemand auf meinen Füßen. Lärm, Lärm. Bettler belästigen einen. Verkrüppelte Zigeunerinnen mit Stöckelschuhen flanieren ständig an mir vorbei. Es stinkt ekelhaft. Ich gebe mein Einweisungsdokument ab.
Die Assistentin antwortet nicht. Hatte ich wirklich einen Infarkt oder bilde ich mir das nur ein? Muss man nicht sofort behandelt werden? In Rumänien, nein. In Rumänien zählt das Leben eines Einzelnen nicht. Ein Jahr vor der Integration nach Europa. 16 Jahre nach der sogenannten "Revolution". Ich spüre, wie man hier Menschen verachtet. Die Assistentin verläßt ständig das Büro, schließt es ab und kommt irgendwann wieder. Menschen klopfen ständig vergebens an die Tür oder werden brutal abgefertigt. Nach 90 Minuten Wartezeit (mit einem Infarkt im Leib) spreche ich die Assistentin bei einer ihrer Rückkehren an. Sie behandelt mich wie einen räudigen Hund, verbietet mir das Wort und läßt mich nicht zu Wort kommen. Ich habe zu warten, wie alle anderen auch. Ich bekomme einen cholerischen Anfall und schreie sie an. Es wird stumm auf dem Korridor. Sie zieht mich in das Büro, hält mir eine Akte hin, die sie nur an einer Ecke öffnet, wo ich zu unterschreiben hätte. Ich reiße ihr die Akte aus der Hand und will sehen, was ich unterschreibe. Es waren vier leere Bögen. Sie hat wohl Angst bekommen, wie alle, denen man in Rumänien zu verstehen gibt, dass man kein kommunistisches Herdenvieh ist. Sie sagt, ich würde sofort abgeholt. Es erscheint ein Putzfrau, die mich zu den Fahrstühlen geleitet. Harsch fordert sie mich auf, die Koffer in ein Magazin zu bringen, mich dort der Kleider zu entledigen und im Schlafanzug wieder zu erscheinen. Auch mein Gebetbuch dürfte ich nicht mitbringen. Ich erhebe Einspruch. Das sei nun einmal so, hier sind alle gleich. Ich errege mich erneut. Mein Herz krampft sich zusammen. Ich denke, die haben Platzmangel und wollen sich schon vorher der dummen Kranken entledigen.
Ich verlange zunächst einmal das Zimmer zu sehen. Das sei ja wohl unglaublich, sagt die Putzfrau. Währenddessen halten zwei Fahrstühle, gehen auf und zu, immer gefüllt bis zum Rand mit Menschenmassen. Keine Chance einzusteigen. Gegenüber halten ständig vier Fahrstühle, meistens leer. Ich sage, warum können wir nicht einen von denen benutzen. Die sind ausschließlich für die Angestellten, heißt es. Ich mache die Probe aufs Exempel und trete in einen solchen Fahrstuhl ein. Die Hälfte des Fahrstuhls wird von der Fahrstuhlführerin mit einem großen breiten Stuhl beschlagnahmt. Ich zwänge mich an ihr vorbei. Sie ist sprachlos oder hält mich in meiner Priesterkleidung für einen Mitarbeiter.
Auf der Etage angekommen, wird "meine" Putzfrau sehr nervös. Sie hat nicht verhindert, dass ich in meiner Kleidung ankomme. Der Doktor wird gerufen. Es vergeht wieder eine halbe Stunde und ich warte stehend. Meine Symptome regen sich langsam energisch. Der Doktor kommt und ich sage, dass ich nicht Kommunist sei und das auch nicht gelernt habe. Ich verlange anständig behandelt zu werden, so wie ich auch meine Mitmenschen respektvoll behandele, auch Zigeuner in meiner Gemeinde, auch verdreckte Kinder auf der Straße. Er schaut mich ungläubig an und lächelt. Ich kann dieses Lächeln nicht interpretieren. Es kann Verlegenheit sein, aber auch Verachtung. Er sagt, es sei doch kein Problem, das Zimmer zu sehen. Die Putzfrau zuckt die Schultern und murmelt etwas von "wir sind halt Niemand, viel zu klein". Ich muss meine Schuhe mit Plastikfolie überziehen (was ich begreife) aber auch einen alten schäbigen grauen schmutzigen Umhang auf die Schultern legen. Ich frage, sind Sie sicher, dass der keine Bakterien hat...?
Nun werde ich ins Heiligtum eingelassen. Ein langer Flurtrakt, Zimmer an Zimmer, in jedem Zimmer acht Betten, Bett an Bett, fast kein Zwischenraum. Mein Herz zieht sich weiter zusammen. Man hat mir ein "Reservezimmer" freigehalten, so sagt man. Zwei gut erscheinende Holzbetten, aber eher für Kinder gedacht. Ich sage, da falle ich heraus, ich will gut schlafen. Außerdem müßte ich die Bettwäsche wechseln. Langsam bekomme ich keine Luft mehr. Ich eile durch den Korridor zurück. Ich sage ich muss an die Luft. Bitte lassen Sie mich an die Luft. Es kommt die Assistentin des Arztes. Bleiben Sie, bitte bleiben Sie. Selbstverständlich können Sie Ihren Koffer und Ihre Bettwäsche mitbringen, aber bitte bleiben Sie. Ich sage, ich weiß es nicht. Ich muss runter. Ich muss raus. Bitte lassen Sie mich. Ich habe das Gefühl, dass ich umfalle.
Ich will nach unten. Wieder die Fahrstühle voll. Ich besetze einfach erneut einen Personalfahrstuhl. Ich trete nach draußen, Schweiß, Angst, setze mich auf die Treppe.
Viorel und Minodora, meine Getreuen, waren mir heimlich nachgereist. Sie hatten geahnt, was passieren würde und sie waren zur Stelle... In diesen Augenblicken weiß man, was treue Mitarbeiter sind.
Viorel kennt mich. Er sagt, komm wir gehen erst einmal essen. Ich entspanne mich. Esse eine leichte Lasagne. Farbe kommt in mein Gesicht zurück und ich beginne wieder zu scherzen: der Todesfabrik entronnen.
Abends komme ich zu Hause wieder an. Meine Wohnung erscheint mir wie ein Palast. Ich bin schon wieder zu Hause. Lege mich hin. Danke Gott, dass er mich vor dieser Fabrik bewahrt hat.
Donnerstag, 2. März 2006
Habe geschlafen, wie ein Bär aus seinem Winterschlaf erwacht. Bekreuzige mich, sage unserem HERRN Guten Tag. Stehe auf, fühle mich gut, gehe an den Computer und schreibe diese Chronik.
Meine Freunde Bruno (Schweiz) und Reiner (Deutschland) organisieren eine Operation in der Schweiz und teilen mir das am Telefon mit. Ich habe keine Versicherung, auch nicht für Deutschland und so organisieren sie auch das Schmerzensgeld. Wenn man glaubt von allen verlassen zu sein, klopft es immer wieder an die Tür. Wie soll ich das jemals gut machen. Unser Großmäzen in der Schweiz, der es mir verbietet auch nur seinen Namen zu nennen, hat schon eine große Summe überwiesen, damit die Kinder während meiner Abwesenheit weiterleben können. Jetzt kann ich wieder beruhigt abreisen, die Kinder zurücklassen und mich in ein Krankenhaus in West-Europa legen. Ich brauche jetzt nicht einmal meine Bettsachen mitzunehmen.
Ich warte auf ein Zeichen der Abreise. Danke Euch Freunde und Mitarbeiter, dass es Euch gibt. Danke Herr, dass ich in Deiner Hand bin.
Fortsetzung der Chronik folgt.
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| Krankenfabrik Targu Mures
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